Cholesterin

Dr. Nicolai Worm, einer der führenden Ernährungswissenschaftler und Medizinjournalisten (Fernsehen) hat, zusammen mit Frau Dr. Karin Haug, ebenfalls Medizinjournalistin (Fernsehen) am Donnerstag, 8.6.2006 im SWR ihre neueste Arbeit veröffentlicht.

Wenn von gesundheitlichen Risiken und Übergewicht die Rede ist, fällt immer wieder der Begriff “Cholesterin”. Vor allem bei tierischem Fett. Butter war nach dem 2. Weltkrieg besonders begehrt und das Symbol der feinen Küche. Margarine galt als billiger Ersatz. Doch auch die Margarinehersteller wollten vom Wirtschaftswunder profitieren. In den 1960er Jahren war der Kampf dann voll entbrannt. Butter oder Margarine? Beide Seiten schenkten sich nichts. Vertreter der Agrarindustrie und Margarinehersteller mobilisierten Heere von Gutachtern, die das jeweils eigene Produkt gegenüber der fettigen Konkurrenz zum gesundheitlichen Heilsbringer stilisierten. Die Butter galt wegen ihres Gehalts an gesättigten Fettsäuren als besonders böser Feind. Aber auch Hühnereier und Fleisch bekamen ihr Fett weg. Dass Margarine ebenfalls gesättigte Fettsäuren enthält, blieb meist unerwähnt.

Im Kampf gegen Herzinfarkt und Schlaganfall haben Wissenschaftler das Cholesterin als den Risikofaktor für vorzeitigen Gefäßverschluss identifiziert. Doch neue Studien mit mehreren Tausend Patienten belegen: die aggressive Senkung der Blutfette bringt Herzpatienten offenbar kaum einen zusätzlichen Nutzen. Nur weil der Fettwert im Blut sinkt, bedeutet dies nicht automatisch ein gesünderes oder gar längeres Leben. So sieht eine Umfrage aus: Auf die Frage nach der Gefährlichkeit von Cholesterin waren sich die Befragten einig, dass Cholesterin sehr gefährlich ist – für die Arterien, für das Herz usw.. Ein wichtiger wissenschaftlicher Versuch, der die Cholesterinangst schürte, fand schon vor fast 100 Jahren statt. Im Jahr 1908 mischte der russische Wissenschaftler Alexander Ignatovski püriertes Hirn mit Ei. Beides ist reich an Cholesterin. Der Forscher war auf der Suche nach dem Grund für Arterienverkalkung und fütterte Kaninchen mit dem Cholesterinpüree. Tatsächlich bekam den meisten Kaninchen die Diät nicht gut. Einige der Tiere starben an Herzinfarkt. Anschließend wurden die Tiere genau untersucht. Alexander Ignatovski war mit dem Ergebnis mehr als zufrieden. Unter dem Mikroskop sah er mustergültige Ablagerungen in den Gefäßen. Eine wundervoll einfache Erklärung: Viel Cholesterin in der Nahrung – viel Arterienverkalkung.

Dass ein Pflanzenfresser für diesen Versuch nicht die Idealbesetzung war, interessierte damals niemanden. Kürzlich sorgte Professor Peter Sawicki für Aufregung an der Cholesterin-Front, weil er 14 große Studien über Cholesterin und Herzinfarkt kritisch überprüft hat. Dabei ist genau dies seine Aufgabe als Präsident des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen: Eine nüchterne Bewertung wissenschaftlicher Fakten. In Sachen Cholesterin kommt er zu dem Schluss: “Man hat früher gedacht, das Cholesterin wäre der Hauptbösewicht beim Herzinfarkt. Diese Meinung mussten wir in den letzten Jahren revidieren. Die Deutsche Kardiologische Gesellschaft dagegen vertritt noch immer strenge Grenzwerte. Demnach haben etwa zwei Drittel aller deutschen Erwachsenen einen krankhaft erhöhten Cholesterinspiegel. Professor Erland Erdmann von der Deutschen Kardiologischen Gesellschaft sieht trotzdem den Grund in unserer Ernährungsweise. Das ist wiederum Wasser auf die Mühlen der Cholesterinsenkungsindustrie. Produkte mit geradezu lächerlich niedrigem Fettgehalt füllen die Kühlregale. Und die Kunden sind bereit, viel Geld auszugeben, in der Hoffnung, so den bösen Cholesterinspiegel zu drücken. Branchenprimus Becel inszeniert das Cholesterin in aufwändigen Werbespots als Bösewicht. Professor Sawicki kommentiert das so: “Es ist nicht belegt, dass die Menge des Cholesterins, die wir mit der Nahrung zu uns nehmen, tatsächlich ursächlich verantwortlich ist für Erkrankungen. Das meiste Cholesterin wird ja in der Leber hergestellt. Und dies bedeutet, dass der Körper Mechanismen besitzt, um sich vor einem Cholesterinmangel zu schützen, weil Cholesterin ja ein wesentlicher und wichtiger Bestandteil unseres Körpers ist.” Tatsächlich ist Cholesterin unentbehrlicher Bestandteil jeder einzelnen Körperzelle. Etwa zur Stabilisierung der Zellwand. Die Organe enthalten viel Cholesterin, die Nebenniere sogar bis zu 50 Prozent. Das Gedächtnis funktioniert nur mit ausreichend Cholesterin. Auch das angeblich bedrohte Herz besteht zu zehn Prozent aus Cholesterin. So ist klar, dass man den lebenswichtigen Cholesterinspiegel über Ernährung kaum dauerhaft beeinflussen kann. Das sorgt wiederum für Goldgräberstimmung in der Pharmaindustrie. Den Herstellern der Medikamente beschert die Cholesterinangst den fantastischen Jahresumsatz von 27 Milliarden Euro! Vielmehr gibt es viele Anhaltspunkte dafür, dass die Statine, also die Präparate, die das Cholesterin senken, auch an anderen Stellen des Stoffwechsels wirken. Und es könnte gut sein, dass das Cholesterin gar nichts damit zu tun hat.” Dazu passt die Beobachtung, dass viele Menschen mit hohen Cholesterinwerten gar keine Ablagerungen in den Gefäßen haben. Umgekehrt hat die Hälfte der Infarktopfer mit Arterienverkalkung einen vollkommen unauffälligen Cholesterin-Wert. Aber die Cholesterin-Senkungs-Industrie hält mit großem Werbeaufwand das Schreckgespenst “Blutfett” weiter am Leben.